Studentisches Leben zur NS-Zeit

Publikation zur Aufarbeitung der NS-Zeit in Hohenheim von Historikerin Dr. Anja Waller.

Veröffentlicht am 21.10.2018

Die Mahnung „wehret den Anfängen!“ ist dieser Tage wieder öfter zu hören. Eine passende Lektüre dazu liefert Historikerin Dr. Anja Waller mit ihrer Publikation „Erschreckend einwandfrei“, die sich mit der NS-Zeit und ihren Folgen an der Uni Hohenheim beschäftigt. In ihrer knapp 3-jährigen Recherche hat sie auf dem Campus nicht den einen Sensationsfund gemacht, nicht die eine bislang unbekannte Nazi-Größe, das eine herausstechende Verbrechen aufgespürt. Ihr Blick richtet sich stattdessen auf das Alltägliche. Und dieser Blick tut weh. Das Geräuschlose, das Unspektakuläre ist das Erschreckende. Die Buch-Präsentation findet am 12.11. im Rahmen einer Gedenkveranstaltung auf dem Campus statt.

1933 finden die neuen Machthaber in Hohenheim eine Hochschule vor, die bereitsteht, die menschenverachtende NS-Ideologie auf allen Ebenen zu unterstützen, ohne offenen Widerspruch, vielfach jedoch mit enthusiastischer Begeisterung – vorauseilend und über das eingeforderte Maß hinaus.

So etwas lässt sich nicht durch eine kollektive, spontan eintretende Verblendung erklären. So etwas ist das Ergebnis einer langsamen und schleichenden Entwicklung. Rektoren, Wissenschaftler, Beschäftigte, Studierende – sie alle sind Teil dieser Geschichte und haben ihren Anteil an der Entwicklung gehabt. Dies arbeitete Historikerin Dr. Anja Waller in ihrer 300-seitigen Publikation anhand historischer Quellen detailliert heraus

Kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten sind in Hohenheim rund 100 Studierende eingeschrieben. Landwirtschaft ist das einzige angebotene Fach. Fast alle Studierende sind männlich und christlich getauft. Sie haben den ersten Weltkrieg als Kinder miterlebt und als Heranwachsende unter wirtschaftlich schwierigen Bedingungen gelebt. Selbst vermögende Familien verloren ihren Besitz häufig durch die vorherrschende Hyperinflation.

Reichsweit befinden sich die Studierendenzahlen 1931 trotz allem auf einem historischen Höhepunkt. Nun allerdings beschert die anhaltende Weltwirtschaftskrise nach dem New Yoker Börsencrash von 1929 Akademikern ganz besonders miserable Job-Aussichten. Hinzu kommt: Die neuen Machthaber halten nicht viel von Intellektuellen. Wer Karriere im Dritten Reich machen will, braucht dafür nicht zwingend ein Studium. Die Studierendenzahlen brechen in den Folgejahren dramatisch ein.

Hohenheim gewinnt unter dem Nationalsozialismus an Attraktivität
Nicht so jedoch an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim. Agrarwissenschaft, bislang eine eher weniger beachtete akademische Disziplin, steht durch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Ideologie unvermittelt hoch im Kurs. Das NS-Regime will dem deutschen Volk neuen Raum im Osten erschließen. Dafür braucht es ausgebildetes Fachpersonal. Und die Erwartungen an die landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim sind diesbezüglich groß. Für Studieninteressierte gewinnt der Standort Hohenheim an Attraktivität.

Selbst während der Kriegsjahre, in denen die universitäre Lehre andernorts zum Erliegen kommt, kann man in Hohenheim fast durchgehend weiter Landwirtschaft studierenden. Zum einen liegt das daran, dass Hohenheim durch seine abgeschiedene Lage von Zerstörungen weitgehend verschont bleibt. Zum anderen glaubt das Regime nach wie vor an die wachsende Bedeutung der Agrarwissenschaft. Um Prüfungen in Hohenheim abzulegen wird Frontsoldaten ein mehrwöchiger Heimaturlaub bewilligt. Kriegsversehrte, die sich vom Krankenbett aus weiter in den Dienst des Reichs stellen wollen, können sich in ein Lazarett im Hohenheimer Schloss verlegen lassen, um dort landwirtschaftliche Vorlesungen zu hören.

Kein Umbruch erforderlich

Die landwirtschaftliche Hochschule Hohenheim erfährt durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten politisch eine Aufwertung. Kurzfristig existierten sogar Pläne, Hohenheim zu einer nationalsozialistischen Musteranstalt  umzugestalten.

Von einem plötzlichen Umbruch oder gar einem Umsturz, der gegen Widerstände hätte erkämpft werden müssen, kann 1933 auf dem Campus dabei jedoch keine Rede sein. Nicht bei den Professoren und nicht bei den Studierenden. Sie alle begrüßen den neuen Geist, zumindest nach außen hin, und stehen von der ersten Stunde bereit, sich willig in den Dienst der NS-Ideologie zu stellen.

Nicht ohne Stolz darüber, dass Tumulte wie an anderen Hochschulen weitgehend ausgeblieben sind, schreiben etwa die Hohenheimer Nachrichten bereits im August 1933: „Die Studentenschaft unserer Hochschule reihte sich sehr rasch und voller Begeisterung in den neuen Staat ein.“

Noch bevor die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik zur vollen Entfaltung kommt und nationalsozialistische Lehrinhalte 1935 an allen Hochschulen vorgeschrieben sind und überwacht werden, fordert die Hohenheimer Studentenschaft 1933 beispielsweise per Unterschriftensammlung die Einführung einer Vorlesung über Menschliche Erblehre (Eugenik) und Rassenhygiene.

Der Senat kommt dem Wunsch der Studierenden nach. Trotz des Angebots eines Hohenheimer Zoologie-Dozentens, sich in das neue Themenfeld einzuarbeiten, entscheidet sich der Senat dafür, externen Dozenten mit mehr Fachkompetenz zu engagieren. Einer 6-teilige Vortragsreihe über die „drohende Schädigung der deutschen Rasse“ steht bereits im Wintersemester 33/34 nichts im Wege.

Homogener Kosmos in Hohenheim
Nationalsozialistisches Gedankengut fiel an nahezu allen Hochschulen im Reich auf fruchtbaren Boden. Dennoch ist die völlige Geräuschlosigkeit des Übergangs an der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim bemerkenswert – und in dieser Form durchaus außergewöhnlich.

Eine Erklärung sieht Historikerin Dr. Anja Waller in der geringen Größe der Hochschule und der starken Homogenität der Studierendenschaft sowie des Lehrkörpers.

„An größeren Universitäten gab es zu den national-konservativen Strömungen meist auch einen Gegenpol. An der Universität Tübingen oder der technischen Hochschule Stuttgart existierten neben offen rassistischen Studentenverbindungen beispielsweise auch linke und republikanische Gruppen. In Hohenheim findet sich dergleichen nicht. Mit ihrem Standort auf den Fildern war die Hochschule vom Großstadtleben im Stuttgarter Talkessel außerdem ziemlich isoliert: In Hohenheim gab es keine städtischen Angebote. Es gab kaum Kulturprogramm. Und es gab auch keine Vielfalt an wissenschaftlichen Disziplinen, die verschiedene geistige Impulse gebracht hätten“, so Waller.

Unruhen bleiben in Hohenheim 1933 wohl auch deshalb aus, weil nach der Machtergreifung keine Studenten von der Hochschule verwiesen werden – anders als an anderen Studienorten. „Ein Grund sich zu brüsten ist das allerdings nicht“, betont Waller: „Jüdische, linke oder republikanische Studenten gab es in Hohenheim um 1933 wohl schlicht und ergreifend nicht oder sie traten nicht in Erscheinung. Für sie dürfte Hohenheim als Hort des konservativ-nationalistischen Denkens wenig attraktiv gewesen sein.“

Studierende als Verbündete der Gleichschaltungspolitik

Unter begeisterungsfähigen, jungen Studenten erkennt das NS-Regime von Beginn an wichtige Verbündete für die Gleichschaltungspolitik an den Hochschulen. Mit der Gründung des NS-Studentenbundes 1933 erhalten regimetreue Studenten mehr Macht und Mitbestimmungsrechte an der Hochschule, auch in Personalfragen.

Bei der Gründung der örtlichen Hochschulgruppe des NS-Studentenbundes in Hohenheim, die den AStA ablöste, traten sogleich 16 Studenten ein. Bei nur 117 Studenten in Hohenheim bedeutete das eine Quote von 14%. Reichsweit lag die Beteiligung durchschnittlich bei 4%. Alle Hohenheimer Studierenden wurden zudem Mitglied der SA.

„Aufgrund der geringen Größe der Hochschule kann man davon ausgehen, dass der soziale Druck unter den Hohenheimer Studenten enorm war. Jeder kennt jeden und steht unter ständiger Beobachtung. An großen Universitäten mag es möglich gewesen sein, gewissermaßen unter dem Radar durchzufliegen. In Hohenheim mussten Abweichler jedoch mit scharfem Gegenwind rechnen. Diese erwünschte soziale Kontrolle erfüllte die Hohenheimer Hochschulgruppe laut Berichten des NS-Studentenbunds offenbar vorbildhaft“, so Waller.

Rassismus in Studentenverbindungen der Weimarer Republik
Studentisches Leben bedeutete während der Weimarer Republik in erster Linie Verbindungsleben. Ca. 60% der Studierenden war nach dem ersten Weltkrieg Mitglied in Korporationen. In keiner Zeit davor oder danach hatten Studentenverbindungen größeren Zulauf. Zumeist waren sie von einem national-konservativen Geist geprägt, etliche vertraten auch offen rassistische Parolen. Jahrzehnte bevor das Deutschen Reich in den 1920er Jahren von einer Welle des Antisemitismus erfasst wird, ist der Judenhass in den Studentenverbindungen weit verbreitet.

Dies trifft in unterschiedlicher Ausprägung weitgehend auch auf die 14 Studentenverbindungen zu, die 1928 in Hohenheim existierten. Die völkische Studentenverbindung „Wehrschaft Hohenstaufen“ mit dem Wahlspruch „Deutsch und treu, furchtlos und frei!“ tat sich dabei durch besonders extreme Positionen hervor. Alle Mitglieder mussten die Erklärung abgeben, „daß sie nach bestem Wissen und Gewissen deutschblütiger Abstammung“ seien, denn man wolle „die Gäste nicht zu Herren unseres Volkes werden lassen“.

Disziplin und Ideologie statt buntem Studentenleben
So überrascht es wenig, dass die NS-Ideologie in Hohenheimer Verbindungskreisen besonders enthusiastisch aufgenommen wurde. Und das obwohl das NS-Regime die Auflösung und Überführung der Verbindungen in die zwei neuen Hohenheimer NS-Kameradschaften „Florian Greyer“ und „Tannenberg“ gezielt vorantrieb und 1935 schließlich erzwang.

Bereits 1934 ist das Verbindungsleben straff organisiert und mit NS-Inhalten gefüllt. Politische Schulung, SA-Dienst, ein umfangreiches Sportprogramm, Vorträge an der Hochschule und Kameradschaftsabende lassen für das eigentliche Verbindungsleben kaum mehr Zeit. „Das frühere Sauf- und Raufstudententum soll aufhören“, zum Kaffeetrinken liest man „einige markante Sätze aus Hitlers ‚Mein Kampf‘ oder sonst ein ausgewählter Ausspruch“ und löscht das Licht zum Zapfenstreich, heißt es in einem Artikel eines Verbindungsblatt über den neuen Tagesablauf.

Erst als darum geht, dass die Verbindungshäuser in den Besitz der NS-Kameradschaften übergehen sollen, regt sich Widerstand. Besonders das Corps Germania in Hohenheim unternimmt Anstrengungen, um die Enteignung zu verhindern. Letztendlich scheitert dieses Aufbegehren jedoch. Das Verbindungshaus des Corps Germania geht 1942 – als Letztes in Hohenheim – an die Kameradschaft „Florian Greyer“ über.

NS-Unterstützung bleibt für Studierende folgenlos

Geräuschlos wie der Nationalsozialismus 1933 in Hohenheim Einzug gehalten hatte, verschwindet er nach 1945 wieder. Hohenheim war es gelungen unauffällig zu bleiben. Im Mittelpunkt der Entnazifizierungsprozesse stehen andere Institutionen. Nur wenige Hohenheimer Professoren müssen sich für das verantworten, was sie aktiv zum Erfolg des menschenverachtenden NS-System beigetragen haben – beispielsweise im Zuge der Eroberung der Ostgebiete und der systematischen Enteignung der dortigen jüdischen Bevölkerung.

Auch Hohenheimer Studenten, die sich leidenschaftlich in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt hatten, müssen nach dem Krieg keine weitreichenden Konsequenzen fürchten – und können in manchen Fällen sogar davon profitieren. Ein Beispiel dafür ist Otto Siegel, Student und Gründer der Hochschulgruppe des NS-Studentenbundes in Hohenheim, dessen Biografie Historikerin Anja Waller in ihrer Publikation nachzeichnet.

„Ihm hat vor allem sein politisches Engagement den Weg in die Wissenschaft bis zum Posten eines Institutsdirektors in der besetzten Ukraine geebnet. Nach dem Krieg ist ihm die Rückkehr auf eine außerordentliche Professur in Mainz gelungen. In den 70er Jahren erfolgte die Auszeichnung mit dem Bundesverdienstkreuz“, so Waller.