Digital Discourse #3:
Stigmergie – Was Social Media Trends mit Ameisenstraßen gemeinsam haben [27.06.25]
Was hat der Bau eines Termitenhügels mit deinem letzten Onlinekauf gemeinsam? Warum ähneln virale Trends auf Social Media manchmal den Spuren eines Ameisenhaufens – und was sagt das über unsere digitale Gesellschaft aus?
In dieser Folge von Digital Discourse widmen wir uns einem faszinierenden Konzept aus der Insektenforschung: Stigmergie.
Der Begriff beschreibt ein dezentrales Organisationsprinzip, bei dem Individuen indirekt über Spuren in ihrer Umwelt miteinander kommunizieren – ganz ohne zentrale Steuerung, ohne Plan, und dennoch mit erstaunlicher Präzision. Ursprünglich beobachtet bei Termiten und Ameisen, findet sich dieses Prinzip heute auch an einem ganz anderen Ort wieder: in unserem digitalen Alltag. Denn auch unser Verhalten in sozialen Medien folgt häufig stigmergischen Prinzipien.
Wenn ein Video viral geht, eine Bewertung ein Produkt in den Rankings nach oben katapultiert oder ein Hashtag trendet, dann sind es oft nicht zentrale Entscheidungen oder bewusste Planungen, sondern digitale Spuren in Form von Likes, Shares und User-Ratings, die das Verhalten weiterer Nutzer:innen beeinflussen – ähnlich wie Pheromonspuren bei sozialen Insekten.
Wir beginnen mit einem kurzen Ausflug in die Geschichte der Insektenforschung: Pierre-Paul Grassé, der Begründer des Stigmergie-Begriffs, stellte sich in den 1950ern die Frage, wie Termiten ohne Chef, Bauplan oder Bauleiter komplexe Strukturen errichten. Seine Antwort: Durch Spurensignale, die andere zum Handeln motivieren – ein einfaches Prinzip, das dennoch kollektive Intelligenz erzeugt.
Digitale Pheromonspuren
Doch was passiert, wenn man dieses Prinzip auf uns Menschen überträgt? Im Gespräch mit Dr. Megan Vine, Psychologin an der Universität Limerick, erfahren wir, inwieweit sich stigmergische Prinzipien auf soziale Medien übertragen lassen. Warum folgen Nutzer:innen bestimmten Trends und anderen nicht? Welche Rolle spielen Plattform-Algorithmen in der Verstärkung bestimmter digitaler “Pheromonspuren”? Und vor Allem: Wie beeinflussen diese Prozesse die Wahrnehmungen und Einstellungen von Nutzer:innen sozialer Medien?
Megan erklärt: Anders als Termiten, treffen wir unsere Entscheidungen nicht nur instinktiv, sondern auf Basis von Vorlieben, Werten und Gruppenzugehörigkeit. Das macht digitale Stigmergie komplexer – aber auch anfälliger für Verzerrungen. Zusätzlich fördern Plattform-Algorithmen oftmals Inhalte, die emotionalisieren und polarisieren, da diese Klicks, Reaktionen und Interaktionen versprechen.
In Anbetracht dieser Mechanismen, werfen wir auch einen kritischen Blick auf Formen der indirekten Kommunikation und überlegen, welche Verantwortung wir als Nutzer:innen in einem System tragen, das so stark von Rückkopplung lebt? Am Ende steht eine doppelte Erkenntnis: Einerseits ermöglicht Stigmergie eine verblüffend effektive Form der Selbstorganisation – andererseits zeigt sie auch, welche Gefahren sich im digitalen Raum aus dem Zusammenspiel von indirekter Massenkommunikation, identitäts-getriebenen Motiven und monetär-ausgerichteten Algorithmen ergeben können.
HINTERGRUND: Digital Discourse
„Digital Discourse“ beleuchtet aktuelle Themen rund um soziale Medien und Gesellschaft. Von Fake News und Verschwörungstheorien bis hin zu Food-Trends und Hashtag-Bewegungen. Das Ziel: Forschung zu den Themen, die die Gesellschaft bewegen, spannend und verständlich zu vermitteln. Dafür recherchiert das Redaktionsteam in den Tiefen des Internets, spricht mit Expert:innen oder schaut direkt vor Ort nach, wie digitale Phänomene unsere Gegenwart prägen. Jeden Freitag gibt es zu einem neuen Thema ein Video auf dem YouTube-Kanal der Universität Hohenheim.