Insektensterben:
Simulation ergibt 24 Milliarden Euro Verlust in Europa  [13.11.25]

Uni Hohenheim: Weitgehendes Verschwinden der wildlebenden Bestäuber in Europa hätte weltweite Folgen für Landwirtschaft, Erträge, Preise, Handel und Ernährung.

Ein hypothetisches Verschwinden der Wildbestäuber im Jahr 2030 würde nicht nur Ernteausfälle und steigende Lebensmittelpreise nach sich ziehen, sondern auch die Ernährungssicherheit und den wirtschaftlichen Wohlstand weltweit gefährden. Zu diesem Schluss kommt eine Simulation der Universität Hohenheim in Stuttgart: Allein in Europa würde im Jahr 2030 der gesamtwirtschaftliche Schaden rund 24 Milliarden Euro betragen. Besonders stark betroffen wären Ost- und Südeuropa. Der weltweite Handel könnte die Ausfälle nur teilweise ausgleichen. Die Ergebnisse zeigen, dass die europäische Landwirtschaft stark von Wildbestäubern abhängt und dass deren Schutz nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch von zentraler Bedeutung ist – insbesondere in den Regionen, die am stärksten gefährdet sind und politisch solche Maßnahmen bislang am wenigsten unterstützen. Nachzulesen sind die Ergebnisse im Fachjournal Nature Communications: doi.org/10.1038/s41467-025-65414-7


Wildlebende Insekten spielen eine entscheidende Rolle für den Ertrag vieler Kulturpflanzen. Ein Verschwinden dieser Wildbestäuber hätte massive wirtschaftliche, ökologische und soziale Folgen, weit über die Landwirtschaft hinaus. Doch wie sähe ein realistisches Szenario aus, wenn ein Großteil der Insekten großflächig wegfallen würde?

Dieser Frage ist ein Hohenheimer Forschungsteam unter Leitung von Professor Arndt Feuerbacher in einer Simulation nachgegangen. Dabei gingen die Forschenden davon aus, dass ein Rückgang der Insekten um 90 Prozent bis in das Jahr 2030 im Vergleich zum Jahr 2017 einem völligen Zusammenbrechen der Populationen gleichkommen würde.

Das Ergebnis lässt aufhorchen: Die Erträge bestäuberabhängiger Kulturen wie Obst, Gemüse und Ölsaaten würden drastisch sinken, während zum Beispiel Getreide, das nicht durch Tiere bestäubt wird, kaum betroffen wäre.


Gesamtwirtschaftlicher Schaden 2030 in Europa rund 24 Milliarden Euro

Insgesamt würde die landwirtschaftliche Produktion in Europa im Durchschnitt um vier Prozent zurückgehen, für stark bestäuberabhängige Pflanzen um rund 13 Prozent. „Regionen wie Spanien oder Teile Osteuropas, die stark von wildlebenden Bestäubern abhängen, müssten sogar mit Ertragseinbußen von über 20 Prozent rechnen“, warnt der Experte.

Diese Ertragseinbrüche führten zu steigenden Preisen für Nahrungsmittel, während die Verfügbarkeit vieler Produkte sinkt. Zwar könnten einige Produzent:innen von höheren Verkaufspreisen profitieren, insgesamt aber überwiegen die Verluste deutlich: „Der daraus resultierende gesamtwirtschaftliche Schaden beliefe sich im Jahr 2030 allein in Europa auf etwa 24 Milliarden Euro.“


Weltweite Handelsverschiebungen & wirtschaftlicher Gesamtverlust über 34 Mrd. Euro

Die Auswirkungen wären jedoch nicht auf Europa beschränkt. Durch die sinkenden europäischen Erträge und steigenden Preise käme es zu spürbaren Verschiebungen im internationalen Handel. Die Europäische Union (EU), bislang Nettoexporteur vieler Obst- und Gemüsearten, würde zum Nettoimporteur.

„Asien sowie Mittel- und Südamerika könnten zwar rund 80 Prozent der zusätzlichen europäischen Nachfrage decken, doch weltweit würden Verbraucher:innen durch höhere Preise belastet“, erläutert Feuerbacher. Besonders ärmere Länder und Haushalte wären stärker betroffen, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssten. Der gesamtwirtschaftliche Verlust weltweit würde sich nach Schätzungen der Forschenden im Jahr 2030 auf über 34 Milliarden Euro belaufen.


Sinkende Ernährungssicherheit

Trotz der Marktanpassungen würde sich die Versorgungslage in Europa deutlich verschlechtern. Obst, Gemüse und Ölsaaten sind nicht nur ökonomisch, sondern auch ernährungsphysiologisch von zentraler Bedeutung. Die Verfügbarkeit dieser nährstoffreichen Lebensmittel würde spürbar sinken.

In der Folge nähme insbesondere die Versorgung der Bevölkerung mit Vitamin A und Folat ab. So würde innerhalb der EU die Verfügbarkeit von Vitamin A im Durchschnitt um 3,7 Prozent zurückgehen. Professorin Christine Wieck, die an der Studie beteiligt ist und an der Universität Hohenheim das Fachgebiet Agrar- und Ernährungspolitik leitet, fasst es zusammen: „In Europa leben laut der Welternährungsorganisation bereits 58 Millionen Menschen, die von moderater oder schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen sind, vor allem in Süd- und Osteuropa. Die Herausforderung, diese Zahl zu reduzieren, würde mit einem Verschwinden der wilden Bestäuber deutlich schwieriger werden.“

Auch in anderen Weltregionen könnten sich Engpässe verschärfen, da die verstärkte europäische Nachfrage nach nährstoffreichen Lebensmitteln dort zu Versorgungsdefiziten führen würde. Vor allem in Teilen Afrikas, Mittel- und Südamerikas sowie Asiens würde die Konkurrenz um vitamin- und mineralstoffreiche Nahrungsmittel zunehmen und sich die Ernährungssicherheit in diesen ohnehin gefährdeten Regionen weiter verschlechtern.


Politische Auffälligkeiten

Die Forschenden stellten auch eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen ökologischer Betroffenheit und politischer Haltung fest: Länder, die besonders stark unter einem möglichen Verschwinden der Wildbestäuber leiden würden, zeigen tendenziell geringere Unterstützung für EU-Verordnungen zum Biodiversitätsschutz, wie beispielsweise die EU-Verordnung über die Wiederherstellung der Natur (das „Nature Restoration Law“) oder die Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (die „Sustainable Use Regulation“).

„Die ökonomischen Kosten des Verschwindens wilder Bestäuber sind besonders hoch in Ländern deren EU-Abgeordnete im Parlament mehrheitlich gegen die genannten EU-Verordnungen gestimmt haben“, so Professor Feuerbacher. „Vermutlich liegt diesem Muster die höhere volkswirtschaftliche Abhängigkeit von der landwirtschaftlichen Produktion zu Grunde, was wiederum das Abstimmverhalten der Abgeordneten beeinflussen kann. Hierzu besteht weiterer Forschungsbedarf.“


Handlungsperspektiven

Ein Verlust der Wildbestäuber hätte nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ökologische Folgen. Diese Insekten sichern nicht nur Erträge, sondern auch die Fortpflanzung zahlreicher Wildpflanzen, beeinflussen ganze Nahrungsketten und fördern damit die Stabilität ganzer Ökosysteme. Zudem führt der Ertragsrückgang zu einer Flächenausweitung der Landwirtschaft, was Biodiversität und Ökosystemleistungen weiter gefährdet.

Die Forschenden betonen, dass Wildbestäuber nicht vollständig durch Honigbienen oder andere technische Verfahren ersetzt werden könnten. Der Schutz ihrer Lebensräume ist daher dringend erforderlich. „Wenn Europa auch nur einen Teil der 24 Milliarden jährlich in eine biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft, die Förderung von Blühstreifen, Hecken und extensiv genutzten Flächen investieren würde, könnten wir die Folgen des Insektenrückgangs deutlich abmildern oder sogar umkehren, und langfristig sowohl Erträge als auch Ernährung sichern“, so das Fazit von Professor Feuerbacher.


Das Modell hinter der Analyse

Für die Untersuchung nutzten die Forschenden das etablierte agrarökonomische Simulationsmodell CAPRI. Es bildet Angebot, Nachfrage und Handel von rund 50 landwirtschaftlichen Produkten weltweit ab und beschreibt komplexe Wechselwirkungen zwischen regionaler Landwirtschaft und globalen Märkten realitätsnah.

Zudem unterscheidet das Modell klar zwischen Wildbestäubern und bewirtschafteten Bestäubern, wie zum Beispiel Honigbienen. Dabei nahmen die Forschenden an, dass die Zahl der bewirtschafteten Bestäuber konstant bleibt – Landwirte können also nicht unbegrenzt Bienenstöcke „nachrüsten“.

„Unser Szenario beschreibt mit einem 90-prozentigen Rückgang der Wildbestäuber einen Extremfall, der zwar unwahrscheinlich, aber leider nicht ausgeschlossen ist“, so Professor Johannes Steidle vom Fachgebiet Chemische Ökologie, der an der Universität Hohenheim zum Thema Insektensterben forscht. „So verdeutlicht es eindrücklich, wie eng ökologische und ökonomische Stabilität miteinander verflochten sind – und wie teuer das Verschwinden der Wildbestäuber letztlich für uns alle werden könnte.“


Publikation
Feuerbacher, A., Kempen, M., Steidle, J.L.M. et al. The economic, agricultural, and food security repercussions of a wild pollinator collapse in Europe. Nat Commun 16, 9892 (2025). https://doi.org/10.1038/s41467-025-65414-7

Text: Stuhlemmer

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Arndt Feuerbacher, Universität Hohenheim, Fachgebiet Ökonomisch-ökologische Politikmodellierung
+49 (0)711 459 24672, a.feuerbacher@uni-hohenheim.de


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