Alarmstufe Rot – Insektensterben statt Bienentanz:
Wissenschaftler fordern Sofortmaßnahmen gegen Artenschwund  [28.10.16]

Extreme Rückgänge bei Insekten, insbesondere bei Wildbienen / Resolution von 77 Forschern an die Bundesumweltministerin
 
GEMEINSAME PRESSEMITTEILUNG der Universität Hohenheim und des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart

Ganze Landstriche ohne bestäubende Insekten – in China schon heute Wirklichkeit. Dort müssen Bäume und Pflanzen bereits von Hand bestäubt werden, und in wenigen Jahren könnte es auch in Deutschland so weit sein. Denn neueste Forschungsergebnisse zeigen: Auch bei uns ist der Bestand von Wildbienen und anderen Insekten drastisch gesunken. Wenn dieser Trend sich fortsetze, so Experten, sterben sie in weniger als zehn Jahren aus. Die Folgen wären eine ökologische Katastrophe, die nicht zuletzt massive wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe für die Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion mit sich bringen würde. Daher unterzeichneten 77 Forscher in diesem Monat bei einer gemeinsamen Biologen-Fachtagung des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart und der Universität Hohenheim eine Resolution an Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks und fordern Sofortmaßnahmen, um den drastischen Rückgang von Wildbienen und anderen Insekten zu stoppen.


In ihrer Resolution verlangen die Forscher ein vollständiges Verbot von Insektengiften der Gruppe der Neonicotinoide bis zum wissenschaftlich sauberen Nachweis ihrer Umweltverträglichkeit. Außerdem fordern sie Maßnahmen zur Erhöhung der Strukturvielfalt in der Kulturlandschaft wie eine Verbesserung des Blütenangebots, sowie ein Langzeit-Monitoring von Insekten, insbesondere Wildbienen. Das soll ermöglichen, gefährdete Bestände zukünftig besser zu lokalisieren und rechtzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten.

„Die Experten sind sich einig, dass nur durch schnelles Handeln zum Schutz der Insekten der Artbestand gerettet werden kann. Wir hoffen, dass durch unsere Resolution in der Öffentlichkeit der Ernst der Lage erkannt wird und die Politik Maßnahmen ergreift“, so Dr. Lars Krogmann, Wissenschaftler am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart.


Neonicotinoide schwächen Wildbienen


Um die Jahrtausendwende wurden verstärkt neuartige Insektenvernichtungsmittel eingesetzt: Sie enthalten Neonicotinoide – hochwirksame Pestizide gegen Insekten. Sie gelten als neues Mittel der Wahl gegen Schädlinge wie Blatt- und Schildläuse, Schmetterlinge, Zikaden und Käfer. Auf Honigbienen zeigte das Nervengift zunächst keine tödliche Wirkung. Daher sahen die Verantwortlichen auch keinen Grund, die neuen Pestizide nicht zuzulassen.

Mittlerweile gibt es jedoch zahlreiche Untersuchungen, die Langzeitwirkungen aufzeigen und eine Anreicherung von Neonicotioniden in Ackerböden selbst bei vorschriftsgemäßer Anwendung. Eine aktuelle Studie aber weist nach, dass die Bestände bestimmter Wildbienenarten, die bereits auf der Roten Liste der bedrohten Arten stehen, drastisch zurückgehen: „In manchen Gegenden um bis zu 75 Prozent in einem Zeitraum von 10 Jahren“, erklärt der Tierökologe Prof. Dr. Johannes Steidle von der Universität Hohenheim. „Das ist Alarmstufe Rot.“


Massiver Rückgang von Insektenbeständen


Die Insekten sterben nicht sofort. „Aber offenbar sind sie geschwächt. Ihre Lernfähigkeit ist vermindert, sie können nicht mehr so gut riechen, und es wurde beobachtet, dass bei Honigbienen der Bienentanz gestört ist. Die Folge ist, dass die Populationsgröße immer weiter abnimmt. Wildbienenarten sind aber für die Bestäubung extrem wichtig. Andere parasitische und räuberische Insektenarten sorgen für ein natürliches ökologisches Gleichgewicht, damit Schadorganismen nicht Überhand nehmen. Diese biologische Kontrolle ist in Gefahr“, so Prof. Dr. Steidle.

Forschungsergebnisse der letzten Jahre belegen, dass vor allem die modernen Formen der Landwirtschaft zum Insektensterben beitragen. „Kollegen aus Nordrhein-Westfalen untersuchen Insektenbestände über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren und beobachten, dass immer mehr Arten aussterben und die Insektenzahl insgesamt zurückgeht“, sagt der Entomologe Dr. Krogmann. Die intensive Landwirtschaft führe nicht nur dazu, dass sich die strukturelle Vielfalt der Landschaft reduziert, was fatale Auswirkungen auf die Biodiversität hat. Auch Überdüngung und der Einsatz von Pestiziden setze den Insektenbeständen zu. Diese Entwicklung habe sich seit dem Jahr 2000 dramatisch beschleunigt, wie die neuesten Auswertungen zeigen.


Fachtagung zum Thema Hautflügler

Die Resolution zum Schutz der Insekten wurde im Oktober 2016 bei der 12. Hymenopterologen-Tagung, einer Biologen-Fachtagung zum Thema Hautflügler (zu denen Bienen, Wespen und Ameisen gehören), in Stuttgart unterschrieben. Die 77 anwesenden Experten unterzeichneten die Resolution an die Bundesumweltministerin.

Die Hymenopterologen-Tagung ist die wichtigste Plattform der mitteleuropäischen Experten für Hautflügler und findet alle zwei Jahre statt. Sie dient neben der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse auch dem Informations- und Erfahrungsaustausch, der Öffentlichkeitsarbeit und der Netzwerkbildung zwischen den Wissenschaftlern.


Hintergründe
Resolution an die Bundesumweltministerin


Die Resolution der Experten wurde am Dienstag, 25.10.2016 an Bundesumweltministerin Dr. Barbara Hendricks verschickt.
 
Hauptforderungen der Resolution:

  1. Vollständiges Verbot von Neonicotinoiden, mindestens aber ein vollständiges, ausnahmsloses Moratorium für ihren Einsatz bis zum wissenschaftlich sauberen Nachweis ihrer Umweltverträglichkeit.
  2. Erhöhung der Strukturvielfalt in der Kulturlandschaft, z.B. durch Etablierung eines Blüten-Managements.
  3. Einführung eines Langzeit-Monitorings von Insekten auf repräsentativen Flächen in Deutschland.
  4. Änderung der Bundesartenschutzverordnung: Einführung eines strengeren Schutzstatus für hochgradig gefährdete Insektenarten wie Wildbienen, entsprechend den Gefährdungskategorien der Roten Liste Deutschlands.

Der Wortlaut der Resolution befindet sich in der beigefügten PDF-Datei.


Hymenopterologen-Tagung Stuttgart

Die Hymenopterologen-Tagung Stuttgart wird vom Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart und dem Arbeitskreis Wildbienen-Kataster des Entomologischen Vereins Stuttgart ausgerichtet.

Weitere Informationen: www.naturkundemuseum-bw.de, www.wildbienen-kataster.de


Hautflügler

Hautflügler sind mit ca. 10.000 Arten eine der artenreichsten Tiergruppen in Deutschland. Sie haben eine wichtige ökonomische Bedeutung als Blütenbestäuber (v.a. Wildbienen) und nehmen als Gegenspieler von pflanzenfressenden Insekten eine ökologische Schlüsselrolle ein (v.a. Ameisen und parasitische Wespen).


Neonicotinoide

Neonicotinoide sind hochwirksame Insektizide und unterbinden die Weiterleitung von Nervenreizen bei Insekten. Sie werden als Beizmittel für Saatgut verwendet, von der Pflanze über die Wurzeln aufgenommen und in alle Pflanzenteile - auch den Blüten - eingelagert. Somit schädigen sie außer den Zielinsekten auch blütenbesuchende Insekten wie Wildbienen und Schmetterlinge.


Forschung am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart


Das Staatliche Museum für Naturkunde Stuttgart ist eines der größten naturkundlichen Forschungsmuseen in Deutschland mit einer international bedeutenden Sammlung. Diese wertvollen Archive des Lebens und der Artenvielfalt bilden die Basis für biosystematische Forschungsarbeit. Die Verbindung von naturkundlicher Forschung und breit gefächerter Wissensvermittlung ist das Kennzeichen des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart. Das Museum ist in einer Vielzahl von internationalen Forschungsprojekten tätig und hat eine große Expertise im Bereich der Artenerfassung, Artenbestimmung und der Erforschung von Ökosystemen. www.naturkundemuseum-bw.de

Text: Töpfer

Kontakt für Medien:

Prof. Dr. Johannes Steidle, Universität Hohenheim, Fachgebiet Tierökologie
T 0711 459 23667, E jsteidle@uni-hohenheim.de

Dr. Lars Krogmann, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart, Abteilung Insektenkunde (Experte für Hautflügler)
T 0711 89 36 219, E lars.krogmann@smns-bw.de

Pressekontakte
Meike Rech, Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart,
T 0711 89 36 107, E meike.rech@smns-bw.de

Pressestelle der Universität Hohenheim,
T 0711 459 22003, E presse@uni-hohenheim.de


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